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1st November,2004
Written by Masafumi Fukagawa
Memorial lecture: "Is the World Beautiful ?" (Original text in German) by Masafumi Fukagawa
This lecture was given in Germany at the DGPh culture prize ceremony in 2004.The prize was presented to Mr.Daido Moriyama, Japanese photographer, in 1/11/2004 at the SK stiftung Hall.
Keyword: Daido Moriyama die Welt ist schön Albert Ränger-Patsch Are-Bure-Boke äquivalent (equivalent) "Nippon-gekijuou Shashin-chou"
※なお、本講演の英訳文は、ネット上の翻訳論文サイト、Art in Translation Volume 4, 2012 - Issue 4 に収録されている(閲覧は会員に限定されている)。
■The english translation of this text is available in the Internet Article archive site, Art in Translation Volume 4, 2012 - Issue 4.(Accessible only for the membership member)
Ist die Welt schön?
1.
„Die Welt ist schön.“ Dieser Satz spricht wahrscheinlich alle unter Ihnen an, die die Fotografie lieben, alle die mit der Geschichte der Fotografie vertraut sind, und besonders die Menschen hier in Deutschland. Denn sie werden sich vielleicht an Albert Renger-Patzsches Meisterwerk Die Welt ist schön erinnern, das seinerzeit von Thomas Mann in der Berliner Illustrierten vorgestellt wurde. Setzten wir nun diesen Satz in Frageform. Auf die Frage „Ist die Welt schön?“ würde Moriyama Daido, der nunmehr mit dem Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Fotografie ausgezeichnet wurde, möglicherweise antworten: „Nein, die Welt ist ganz und gar nicht schön!“ Doch dürfen wir eine solche Aussage nicht als objektiven Tatbestand verstehen, sondern als ein Zeichen, dass Moriyama, wie andere revolutionäre Künstler in der Fotografiegeschichte, kompromisslos auf der Suche nach neuen fotografischen Ausdrucksmöglichkeiten ist. Im Hintergrund einer solchen Aussage steht die unverwechselbare fotografische Ästhetik, die aus Moriyamas Auseinandersetzung mit der Fotografie resultierte.Diese Ästhetik möchte ich zunächst zum Ausgangspunkt dieses Vortrags nehmen.
Es war die „heiße“ Zeit von Mitte der Sechziger bis Anfang der Siebziger Jahre, als die japanische Wirtschaft boomte und zugleich die Studentenunruhen, die anlässlich der Revision des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrages politische und gesellschaftliche Veränderungen forderten, ihren Höhepunkt erreichten. Hand in Hand damit taucht eine neue Generation von Fotografen auf, die eine Veränderung des fotografischen Ausdrucks anstrebt. Eine der zentralen Figuren dieser Bewegung ist Moriyama Daido, der in Fotomagazinen Aufmerksamkeit zu erregen beginnt. Seine Bilder schockieren und rufen heftige Kontroversen in der Welt der Fotografie hervor. (Abb. 1) Das lag vor allem daran, dass sich Moriyamas Bilder durch eine Bildqualität auszeichnen, die wie ein Tanz wild gewordener Partikel wirkt, durch verschwommene Bilder, die nicht das Fotoobjekt fokussieren, und durch unscharfe Einstellungen. Sie waren gefährlich, weil sie die herkömmliche Ästhetik und Konzeption der Fotografie, in der Wert auf präzise Darstellung und durchdachte Komposition gelegt wurde, in Stücke schlugen. In der Welt der Fotografie kam sogar der Ausdruck are, bure, boke („wild, verschwommen, unscharf“) in Mode, um diesen rauen Bildstil zu charakterisieren. Auf die zahlreichen Einwände und Kritiken, die damals gegen seine Bilder erhoben wurden, antwortete Moriyama beispielsweise folgendermaßen:
„Ich stelle mir immer eine ganz simple Frage. Warum muss ein Foto scharf sein? Warum müssen Einstellungen immer schön sein? Wenn ich in meinem realen Leben etwas ansehe, kann ich es unmöglich als etwas Klares, Statisches sehen, das genau an der richtigen Stelle platziert ist. […] Das heißt, weil die Welt, mich eingeschlossen, überhaupt nicht schön ist, sind auch meine Bilder so.“
Diese Bemerkung Moriyamas mag als eine Provokation gegenüber der Fotografiegeschichte angesehen werden. So gibt es im 20. Jahrhundert zum Beispiel die Ästhetik der fotografischen Brillanz, die von der Überzeugung getragen ist, dass man mit Hilfe der analytischen Kraft der Linse die Schönheit eines Objekts, die mit bloßem Auge in der Realität nicht erkennbar wäre, entdecken und zum Ausdruck bringen könnte. Ein monumentaler Ausdruck dafür ist die berühmte Fotosammlung Die Welt ist schön (1929) des eben erwähnten Albert Renger-Patzsch (der übrigens vor dem Krieg einen großen Einfluss auf die japanische Fotografie hatte). Auch die Bilder der damaligen Meister der amerikanischen Fotografie Paul Strand, Edward Weston und Ansel Adams sind bei aller individueller Besonderheit von der gleichen fotografischen Ästhetik durchdrungen. In gewissem Sinne stellt Moriyamas Fotografie eine Herausforderung gegenüber der modernistischen Ästhetik dar, die diese Größen der Fotografiegeschichte geschaffen haben. Indem sie Möglichkeiten zeigte, diese zu überschreiten und zu neuen Ausdrucksformen zu gelangen, war sie im wahrsten Sinne ein Fortschritt, wie er damals nicht nur in Japan, sondern weltweit in der Fotografiegeschichte vollzogen wurde.
Der Auftritt Moriyama Daidos Ende der 60er Jahre war ein Großereignis, das die Welt der japanischen Fotografie erschütterte. Von Seiten derer, die die traditionelle fotografische Ästhetik wahren wollten, wurde er schärfstens kritisiert („Das ist keine Fotografie!“), während sich andererseits Kritiker, Fotografen und schließlich Zeitschriftenleser fanden, die in seinen Bildern neue Ausdrucksmöglichkeiten erkannten und ihm nachfolgten.
In der Debatte, die sich um Moriyama entzündete, wurde übrigens der Ausdruck „Gleichwertigkeit“ zu einem Schlüsselwort. Er selbst verwendet ihn folgendermaßen, wenn er über seine Werke spricht:
„Für mich sind sowohl die realen Gegenstände, als auch Poster, als auch Fernsehbilder Bestandteile der Außenwelt. Deshalb sind sie für mich gleichwertig. Wenn ich beispielsweise eine Frau auf einem Poster eher sexy finde als eine lebendige Frau, fotografiere ich die auf dem Poster.“ (Asahi Camera, April 1972, S. 147)
Dieser Begriff „Gleichwertigkeit“ taucht nicht nur in diesem Zitat, sondern auch in vielen anderen Äußerungen Moriyamas über seine Werke auf. Ich möchte ihn hier zum Ausgangspunkt nehmen, um anhand einiger Bildbeispiele die neue Dimension der fotografischen Ästhetik, die Moriyama erschlossen hat, zu erläutern.
2.
Zunächst möchte ich die Serie „Accident“ vorstellen, die 1969 in mehreren Nummern einer Foto-Zeitschrift veröffentlicht wurde. (Abb. 2). Dies ist ein Werk, das Moriyamas radikale Zerstörungskraft eindrucksvoll sichtbar macht. Zugleich ist es auch für das Verständnis seiner Gedanken zur „Gleichwertigkeit“ bedeutsam. Diese erste Serie nennt sich „Aufnahmen aus sieben Tagen“ und besteht aus sechs Einzelfotografien. Fünf davon stellen Bilder aus verschiedenen anderen Medien wie Fernsehen, Bildtelegrafie oder Zeitungen dar, die noch einmal aufgenommen wurden … Ein Fernsehbild von Präsident Johnson anlässlich des Bombenstops von Nordvietnam, ein Telegrafenfoto von Nixon nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen, ein Zeitungsbild des ermordeten Robert Kennedy, eine Telegrafenfoto von massakrierten Vietkongsoldaten. Nur ein Bild zeigt eine real fotografierte Aufnahme. Es handelt sich also fast ausschließlich um noch einmal fotografierte Bilder. Dieses Werk hat Kritiker auf den Plan gerufen, die die Subjektivität der Fotografen vermissten. In wieder einer anderen Serie namens „Unfall – nach einem Poster der Polizei zum Thema Verkehrs-sicherheit“ veröffentlichte Moriyama grauenerregende Bilder, die unmittelbar nach Verkehrsunfällen aufgenommen wurden. Aber wie schon der Titel anzeigt, handelt es sich nicht um Szenen, die Moriyama selbst fotografierte, sondern um Szenen auf einem Poster, das er noch einmal ablichtete. Die sieben Seiten dieser Serie bestehen lediglich aus einer Gesamtaufnahme und einzelnen Ausschnitten daraus, die Moriyama in der ihm eigentümlichen, groben Art zusammenstellte. Moriyamas Sichtweise der „Gleichwertigkeit“ von „Bildern von Bildern“ und „Bildern von realen Objekten“ wird hier auf eindringliche Art deutlich.
Was ist die Kamera für Moriyama? Sie ist in seinen Worten ein „Kopierapparat der Realität“, ein „optisches Gerät zur Erzeugung von Gleichwertigem“. Wenn man die
Kamera nicht als eine Vorrichtung auffasst, um etwas so zu dokumentieren, wie man es mit dem Auge in der Realität wahrnimmt, sondern wenn man sie als Kopierapparat der Realität versteht, so macht es keinen wesensmäßigen Unterschied, ob der fotografierte Gegenstand einer realen Situation oder einem anderen Bild entstammt. Beides ist gleichwertig. Vom Standpunkt der Gleichwertigkeit aus kann auch das zum Gegenstand eines Fotos werden, was ein anderer fotografiert oder geschaffen hat. Moriyamas Technik, bereits vorhandene Bilder mechanisch zu kopieren und ins eigene Werk aufzunehmen, weicht vom traditionellen Grundsatz ab, dass der Fotograf einen realen Gegenstand zum Ausgangspunkt nimmt, um seine eigenen Visionen auszudrücken.
Moriyamas monumentaler Fotoband Nippon - Gekijō shashinchō (Japan: A Photo Theatre) kann vielleicht als Kristallisationspunkt seiner Ästhetik der Gleichwertigkeit betrachtet werden. 1967 erhielt er den Newcomers’Award der Vereinigung japanischer Fotokritiker. Prämiert wurden seine Aufnahmen von Schaukünstlern und Artisten, die er in einer Serie unter dem Titel Nippon Gekijo (Theater Japan) in einer Fotozeitschrift veröffentlicht hatte. Im darauf folgenden Jahr wurde sein erster Fotoband, Nippon - Gekijō shashinchō vom Verlag Muromachi Shobō herausgebracht. Man könnte aus dem Titel dieses Buches schließen, dass hier die Arbeiten zum Thema Künstler und Artisten aus dem Jahr davor zusammengefasst sind. Tatsächlich aber bildete er hier verschiedene Bilder um, die er von Mitte der 60er Jahre bis 1968 veröffentlicht hatte, zerschnitt sie und würfelte sie nach zufälligen Kriterien neu zusammen. Das Buch verdeutlicht seinen Entschluss, seine Bilder in ihrer ursprünglichen Form an die Öffentlichkeit zu bringen. Er wehrte sich damit gegen die Begründung für die Verleihung des Newcomer Awards, in der es hieß, Moriyama hätte das „Thema“ Bodenständigkeit und Volkstümlichkeit der Japaner zum Ausdruck gebracht. Moriyama aber lehnte den Begriff „ Thema“ im traditionellen Sinn grundsätzlich ab und verdeutlichte in diesem Band, dass auch seine „Themen“ alle „ gleichwertig“ sind. In Nippon - Gekijō shashinchō wurden Fotos aus früheren Editionen, die dort thematische Titeln wie „Yokosuka“, „Artisten“, „Stockschwinger“, „Pantomime“, und dergleichen beigefügt bekommen hatten, aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgenommen und neu zusammengestellt. Moriyama will hier der Vorstellung entkommen, dass ein Foto lediglich die Illustration zu einem bestimmten Thema sei, und erschließt eine Metaebene des fotografischen Ausdrucks, indem er jedes Thema unterschiedslos und gleichwertig behandelt. Es war dies eine Kriegserklärung an die themengebundene, traditionelle Fotokonzeption.
3.
Betrachten wir nun Moriyamas Neuerungen aus der Perspektive der japanischen Fotografiegeschichte.
Wie bereits erwähnt bedingt der Standpunkt der „Gleichwertigkeit“ zum einen, dass die allgemeine Bedeutsamkeit des fotografierten Objekts aufgegeben wird, zum anderen verliert auch das Thema eines Werkes als „Titel“ seinen besonderen Sinn. Damit richtet sich Moriyama gegen die beiden wichtigsten Strömungen der Nachkriegsfotografie, die seinem Schaffen vorangingen.
Zu diesen zählte erstens die „Bewegung des fotografischen Realismus“, die in den fünfziger Jahren die Welt der japanischen Fotografie eroberte. Ihr Hauptvertreter Domon Ken, ein Gigant der japanischen Fotografiegeschichte, arbeitete bereits vor dem Krieg in der Zeitschrift Nippon, die Japan im Ausland propagierte. Zweitens ist die Methodologie der kumi shashin (Foto Gruppen) zu nennen, die von Natori Yōnosuke, dem Begründer des modernen Fotojournalismus in Japan, eingeführt wurde. Dieser hatte Ende der Zwanziger Jahre in Deutschland studiert und war sowohl bei der Münchner Presse als auch bei der Berliner Presse als Fotograf tätig gewesen. (Übrigens wurde in den 50er Jahren auch Otto Steinerts „subjektive Fotografie“ in Japan vorgestellt und fand nicht wenige Anhänger, erhielt aber letztlich doch kein so großes Echo.) Für Domon zählte „im Hinblick auf das Motiv nur die objektive Wirklichkeit“. Er kritisierte ästhetisierende Fotografien, lehnte jegliche Künstlichkeit ab und forderte mit Nachdruck, dass der Fotograf seinen Gegenstand wichtig nehmen und sich ihm mit ethischer Aufrichtigkeit nähern müsse. Dies führte dazu, dass die gesellschaftliche Bedeutung der Fotosujets in den Vordergrund gerückt wurde, und viele Amateurfotografen Gegenstände oder Schauplätze, die die Lebensumstände der Nachkriegszeit deutlich machen, zu fotografieren begannen. Auf der anderen Seite verbreitete sich das Konzept der kumi shashin von Natori Yōnosuke, der auf der Grundlage seiner Erfahrungen mit dem Fotojournalismus Fotos mit Worten in einem Satz verglich und meinte, man könne mit zusammengestellten Fotos, ähnlich wie mit Sätzen, eine Geschichte erzählen. Laut seiner Erklärung sind kumi shashin „Essays, die mit Fotos geschrieben wurden“. In dieser Sichtweise sind die einzelnen Bilder, die in den kumi shashin verwendet werden, eine Art Zeichen und ordnen sich dem Gesamtthema oder der Erzählung unter, sie fungieren also als Illustrationen. Diese beiden Strömungen wurden in der damaligen Diskussion übrigens als gegensätzlich aufgefasst, weil die eine ihren Schwerpunkt auf die Bedeutung des abgebildeten Gegenstandes legt, während die andere die subjektive Auswahl der Bilder und die Schaffung eines Kontextes betont. Sie bewegen sich aber insoferne in der gleichen Arena, als sie in der Beziehung zwischen Foto und Objekt von einem simplen Subjekt-Objekt Dualismus ausgehen, der voraussetzt, dass man die Bedeutung des fotografierten Gegenstandes im Vorhinein verstehen kann. Moriyamas Fotos aber ziehen die Struktur der damaligen traditionellen Fotokonzeption insgesamt in Zweifel und eröffnen eine Dimension, die den philosophischen Rahmen der modernen Fotografie sprengt.
1968 tritt Moriyama der Zeitschrift Provoke bei (Erstausgabe 1968, begündet von Takanishi Yutaka, Nakahira Takuma, Taki Kōji und Okada Takahiko; Moriyama wurde ab der zweiten Nummer Mitglied). Nachdem sich diese radikale Zeitschrift die Überwindung der modernen Fotografie auf ihre Fahnen geschrieben hatte, war sein Beitritt nur natürlich. Der Mitbegründer Taki Kōji schrieb in dem Artikel „Manazashi no Atsumi e“ („Hin zu einer Tiefe des Blicks.“ In Asahi Camera, Februar 1972) über einen fotografischen Ausdruck, der den Dualismus von Subjekt und Objekt überwindet, folgendes: „Das ‚Subjekt’ erscheint in der Fotografie (wenn man sie als einen Text ansieht) als der ‚Stil’. ‚Ausdruck’ ist nicht etwas, das vor den Augen des Subjektes durch sein Bewusstsein konstituiert wird, sondern das ‚Subjekt’ konstituiert sich innerhalb des ‚Ausdrucks’.“ Des Weiteren schlägt er vor, für den Begriff „Stil“ das Wort „Blick“ als der Fotografie angemessenen Ausdruck zu verwenden. Die Fotos Moriyamas, die weder an ein Objekt noch an ein Thema gebunden sind, haben Takis „Blick“ im Sinne von „Stil“ in der Fotografie einen neuen Raum eröffnet.
4.
Die Übereinstimmung von Moriyamas Fotos mit seinem Leben ist ein weiterer Punkt, der neben der Idee der „Gleichwertigkeit“ von essentieller Bedeutung für seine Fotokunst ist. Wie schon erwähnt, weigert sich Moriyama seinen Fotos durch das fotografierte Objekt oder das thematische Konzept einen Sinn zu geben. Auch in seiner häufig verwendeten „no finder“ Technik macht sich diese Haltung bei der Aufnahme von Bildern bemerkbar. Mit der no finder Technik schließt er aus, dass sich eine bewusste Bedeutung einschleicht, sobald man mit dem Sucher einen Ausschnitt der Welt auswählt. „Von Anfang an einer bestimmten Vorstellung nachzugehen heißt, dass man ein Ding mithilfe von theoretischen Begriffen erschafft…“ (Moriyama). Hier entsteht möglicherweise ein großes Problem: Wenn man es ablehnt, dass ein Foto von äußeren Objekten einen Sinn bezieht, auf welche Grundlage kann sich die Fotografie dann stützen? Moriyama sagt dazu in einem Interview: „Anstatt irgendeine theoretische Vorgangsweise anzuwenden, reagiere ich total körperlich. […] Zum Beispiel drehe ich mich nach rechts und fotografiere ein Poster, drehe mich um und fotografiere die Straße. Manchmal richte ich auch die Kamera auf mich selbst. Ich treffe dabei keine Unterscheidungen, trotzdem gibt es in meinem Inneren keinen Widerspruch.“ Wir haben es hier nicht mit einem Fotografen zu tun, der mit der Kamera einen Ausschnitt der Welt wählt, welcher von Vorhinein mit sprachlich oder kulturell determinierten Dingen und Phänomenen angefüllt ist. Hier erscheint ein Fotograf, der das der analytisch betrachteten Welt vorangehende unberührte Neuland mit der Kamera durchforstet, die seinen eigenen körperlichen und physiologischen Reaktionen folgt. Der Körper des Fotografen ist hier natürlich nicht bloß ein physischer Körper, sondern ein Körper, der ein „Leben“ im weitesten Sinne führt. Als Fotografie der Gleichwertigkeit stützt sich die Existenz seiner Werke auf jenen Körper, der Moriyamas eigenes Leben hervorbringt. Anders gesagt, was die Fotografie der Gleichwertigkeit stützt, ist das „Leben“, das ein Mensch im Besitz eines lebendigen Körpers führt. In diesem Sinne sind Moriyamas Fotos und Moriyamas „Leben“ zwei Seiten der selben Medaille. In Moriyamas Worten: „Ich und meine Fotos stimmen exakt überein.“ (Moriyama im selben Interview)
Wenn hier von Übereinstimmung zwischen Leben und Fotografie die Rede ist, so bedeutet das in Moriyamas Fall keineswegs, dass er sich in einer subjektiven Welt verschließt.
Denn seine fotografische Methode besteht darin, dass er unter dem Einsatz des eigenen Körpers das Wesen des Mediums Fotografie selbst hinterfragt und nach einer neuen Form in der Beziehung Fotograf, Foto und Welt sucht, die über einen simplen dualistischen Realismus hinaus geht. Über sein Werk Nippon gekijō shashinchō sagt Moriyama im selben Interview: „… indem ich Erotisches, Statisches, und allerlei andere Dinge, aneinander reihe, kann ich, glaube ich, die Welt als Welt und die Menschen als Menschen in ihrer Gesamtheit umso realistischer darstellen.“ In dieser Äußerung lässt sich erkennen, dass Moriyama mit seiner durchgängigen Methode der Gleichwertigkeit die Absicht verfolgt, die Beziehungen zwischen den Menschen und der Welt, die im Rahmen der dualistischen Moderne entfremdet und durchtrennt wurden, in ihrer Gesamtheit wieder herzustellen, indem er zwischen Körper und Fotografie vermittelt.
5.
Die Sturm-und-Drang Bewegung der fotografischen Erneuerung, in deren Zentrum sich Moriyama befand, schien sich in den 70er Jahren noch ein weiteres Mal zu steigern, Moriyama aber erlitt in dieser Zeit einen Rückschlag. Im April 1972 gab er den Band Shashin yo sayōnara („Auf Wiedersehen, Fotografie!“, Verlag Shashin Hyōronsha) heraus. Dieser Band zählt mit Nippon gekijō shashinchō zu den wichtigsten Publikationen Moriyamas, doch danach ergriff ihn eine große Schaffenskrise.
In den vier kurzen Jahren nach 1968, als Nippon gekijō shashinchō (und auch Provoke) herausgebracht wurde, erfuhr Japan große gesellschaftliche Umwälzungen … Die Studentenbewegung, die eine Reihe politischer Fragen angefangen von der Erneuerung des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrages aufwarf, breitete sich über ganz Japan aus, wurde aber durch unausgesetzte Repressionen zurückgedrängt, und radikalisierte sich in Form der Roten Armee Fraktion… 1970 kam es zu einer automatischen Verlängerung des Sicherheitsvertrages und damit zu einem Nachlassen der politischen Aufheizung. Die Weltausstellung in Osaka, die den Erfolg der japanischen Wirtschaft vor aller Welt stolz zur Schau stellte, der harakiri Selbstmord des Schriftstellers Mishima Yukio und dergleichen mehr waren Anzeichen, dass sich das Klima der Zeit verändert hatte. Vor diesem Hintergrund entfaltete Moriyama eine unglaubliche Aktivität, indem er seine Werke in Zeitschriften und Magazinen veröffentlichte, an Ausstellungen teilnahm und im Fernsehen auftrat. Viele seiner repräsentativsten Werke entstanden in dieser Zeit.
Der radikale Ausdruck von Moriyamas Fotografie steht in synchroner Übereinstimmung mit der Welle der Erneuerung, die den Zeitgeist der späten 60er Jahre auszeichnete. Umso mehr musste auch der Wandel der Gesellschaft ab dem Jahr 1970 seine Schatten auf die Fotografie Moriyamas werfen. Der 1972 veröffentlichte Band Shashin yo sayōnara zeigt diese Veränderung deutlich. In einem Gespräch zwischen Moriyama und seinem engen Freund und Vorbild, dem Fotografen Nakahira Takuma, das diesem Buch am Ende beigefügt ist, bemerkt Nakahira: „Was immer ich tue, es erfasst mich immer ein Gefühl der Ungeduld, weil ich die Realität nicht erfassen kann.“ Und Moriyama drückt eine ähnliche Stimmung mit den Worten aus: „Ich habe das Gefühl, dass letzten Endes alles irgendwie verblasst.“ Tatsächlich finden sich in dem Werk Anzeichen einer qualitativen Veränderung in Moriyamas Arbeiten. Zwar fotografiert er weiter nach der Methode der Gleichwertigkeit, indem er die Kamera als Kopiergerät der Realität einsetzt, doch alles in allem nimmt der Grad an Undeutlichkeit in seinen Bildern zu und weist eine Tendenz zur Negation auf. Es herrschen Bilder vor, die sich der weißen Fläche soweit annähern, dass selbst die Schatten der Gegenstände verschwinden. Im gleichen Gespräch meint Moriyama: „Ich habe das Gefühl, dass ich nicht anders kann, als mich auf die Negation zu zu bewegen, auch wenn ich in mir einen Widerspruch dagegen spüre und auch wenn es komisch aussieht.“ Indem sich „Gleichwertigkeit“ in „Negation“ verwandelt, vollzieht sich eine große Veränderung in Moriyamas Werk. Auch die Kunstkritiker, die Moriyama bis dahin wohl gesonnen gewesen waren, verwarfen ihn nun schonungslos. Diese Zeit der Krise dauerte für Moriyama bis Ende der 70er Jahre an.
Nach langem Schweigen signalisierte Moriyama mit der Serie „Licht und Schatten“, die er 1981 in dem neu gegründeten Fotomagazin Shashin jidai (Verlag Byakuya Shobō) ein Comeback. Leider bleibt mir zuwenig Zeit, um auf Moriyamas bedeutende Werke in den folgenden über zwanzig Jahren bis heute näher einzugehen. Er entfaltet nach wie vor eine rege Ausstellungstätigkeit im In- und Ausland, gibt einen neuen Fotoband nach dem anderen heraus, und steht in der modernen Fotografie immer noch an vorderster Front. Obwohl er sich bereits einen unverrückbaren Platz in der Fotografiegeschichte erobert hat, gehört er zu den aktivsten Künstlern Japans und erfreut sich auch bei der jungen Generation uneingeschränkter Beliebtheit. Dass er nun mit dem Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie ausgezeichnet wurde, verstehe ich sowohl als Anerkennung seiner historischen Bedeutung als auch seiner gegenwärtigen Aktivitäten.
Zum Abschluss möchte ich diesen Vortrag mit einem Zitat ausklingen lassen. Es handelt sich um ein Wort Viktor Sklovskijs, eines russischen Literaturkritikers, der dem unmittelbar nach der russischen Revolution entstandenen Russischen Formalismus angehörte. Das Zitat bezieht sich zwar auf die Literatur, doch lässt es sich auch auf die Art und Weise anwenden, in der Moriyama die Ausdruckskraft auf dem Gebiet der Fotografie gesteigert hat. Sklovskij diagnostizierte eine sprachlichen Krise, in der die Sprache trotz ihres ursprünglichen Reichtums jegliche Bildkraft verloren hat, und verfasste eine Theorie der Wiedergewinnung des Mediums Sprache, in der es heißt:
„Und gerade, um das Empfinden des Lebens wieder herzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wieder-Erkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der „Verfremdung“ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert…“ (Viktor Sklovskij, „Die Kunst als Verfahren,“ 1926. [Dt. Übersetzung in Jurij Striedter, Texte der russischen Formalisten, Bd. I. München, 1969, S. 15.])
Masafumi Fukagawa
curator / critic
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